„Das ist doch keine Haltung!“

Vor der WM 2022 machte der Fanvertreter Dario Minden in ganz Fußballdeutschland Schlagzeilen, weil er als homosexueller Fan den katarischen Botschafter mit der untragbaren Situation in Katar konfrontierte (hier im Video zu sehen). In seinem Auftritt betonte er, dass Fußball für alle sei und man im Fußball nicht alles dem Kapitalinteresse unterordnen dürfe. Im Interview mit ihm sprechen wir über die Fanproteste gegen den Investoreneinstieg in die DFL, die Weltmeisterschaften in Katar und Saudi-Arabien und Outings im Fußball.

Das Interview führte Tobias Hügerich.

FC PlayFair!: Wir wollen mit dem Thema 50+1 starten. Du hast Dich in Deinen Tätigkeiten bei Eintracht Frankfurt und bei Unsere Kurve wiederholt für den Erhalt der Regel ausgesprochen. Kannst Du zum Einstieg einmal kurz skizzieren, welche Bedeutung 50+1 für den deutschen Fußball hat?

Dario: Diese Regel ist die wesentlichste und wichtigste Regel über die Verfassung unseres Fußballs. Dadurch ist der Fußball nach demokratischen Vereinsinteressen ausgerichtet.

Gegner:innen behaupten oft, die 50+1 Regel würde langfristig die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesliga gefährden. Was kann man solchen Aussagen entgegensetzen?

Eine ganze Menge. Zunächst ist es eigentlich gar nicht verkehrt, sich den Wettbewerb der Bundesliga anzuschauen. Dann wird man schnell feststellen, dass einiges schief läuft. Man sieht, dass sich einige Vereine an 50+1 halten und mit schwarzen Zahlen wirtschaften müssen während andere Vereine entweder eine Ausnahmeregel nutzen oder die Regel einfach brechen. Diese bekommen dann die Verluste einfach immer ausgeglichen. Das sorgt für einen ungleichen Wettbewerb und ist ein Problem. Da kann man in der Tat sagen, entweder 50+1 für alle oder für keinen. Und wenn man dann wirklich zum Schluss kommt, dass ein Wegfall der 50+1 Regel besser für alle sei, muss man sich klar machen, dass dies das Ende des demokratisch geführten Fußballs wäre. Klar wäre dann, dass der Fußball für die breite Mehrheit der Menschen kein soziales, kulturelles und demokratisch geregeltes Gut mehr wäre. Zudem muss man verstehen, dass bei der Abschaffung von 50+1 alles dem Kapitalinteresse untergeordnet wäre. Wenn man sich dafür entscheidet, würde der Fußball, so wie wir ihn kennen, implodieren und hätte nicht mehr diese Strahlkraft, die ihn erst zum großen Wirtschaftsfaktor macht.

Denn was die Stadien dieser Republik in Regelmäßigkeit füllt, ist die Verbindung der Menschen zu ihrem Verein. Denken wir an das teilweise grausige Gekicke, was sich die treuen Fans im Max-Morlock-Stadion, auf dem Betzenberg oder im Volksparkstadion antun. Die gehen da nicht hin, weil da so ein filigraner Ball gepflegt wird. Und wenn man diese Verbindung kappen würde, dann wären die Leute weg. Wenn dann dort ein supertoller Fußball gespielt wird, kann man sich vielleicht einen neuen „Kundenstamm“ aufbauen, aber diese starke Bindung, die die Fans zu ihrem Verein haben und die letztendlich den deutschen Fußball so auszeichnet, wäre dann weg. Damit würden sich auch sämtliche Überlegungen zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit erübrigen.

In England gibt es keine 50+1 Regel und die Liga ist wohl die stärkste der Welt. Wie soll die Bundesliga da mithalten können?

Man muss sich klarmachen, dass man die Premier League wirtschaftlich nicht einholen können wird. Nicht nur, weil sie schon lange enteilt ist und aufgrund der schlimmen Kolonialgeschichte einen globalen Marktvorteil hat, sondern auch, weil es eine ganz andere Fußballkultur an der Basis gibt. Beim Beispiel Newcastle United gab es mehrheitlich Jubelstürme, als bekannt wurde, dass der Verein an einen saudi-arabischen Staatsfond veräußert wird. Jetzt ist man dort international wettbewerbsfähig, Glückwunsch. Aber die Frage ist doch, will man das um jeden Preis? Jedem, der voreilig sagt „Im Sport muss doch die Wettbewerbsfähigkeit uneingeschränkt an oberster Stelle stehen“ rate ich: Lest erst nochmal den Brief, den die Frau, die Jamal Khashoggi heiraten wollte, an die Newcastle Fans geschrieben hat. Und sagt dann nochmal, ob ihr wollt, dass sich der Sport um des Geldes willen so instrumentalisieren lassen sollte.
Ich glaube es gibt keine zwei Meinungen, dass das, was in Newcastle abgefeiert wird, an keinem Fußballstandort in Deutschland möglich wäre. Die Fußballbasis in Deutschland tickt da einfach anders und pocht viel mehr auf ihre Gestaltungs- und Mitbestimmungsrechte. Deswegen ist es eine Illusion, dass man sich einfach nur dem grenzenlosen Kapitalmarkt öffnen muss und dann würde hier schon alles laufen und man bekommt eine zweite Premier League. Das ist eine theoretische Diskussion, die vollkommen an den deutschen Marktbegebenheiten vorbei geht.

Man muss sich klarmachen, dass man die Premier League wirtschaftlich nicht einholen können wird. Doch wenn sich der deutsche Fußball auf das besinnt, was ihn stark macht, dann wird er nie chancenlos sein, wenn es gegen englische Teams geht. Ich mache mal einen Vergleich mit meinem Herzensverein. Eintracht Frankfurt hat die Bayern sehr oft geärgert in den letzten Jahren einmal sogar in einem Finale einen Titel entrissen. Wenn Eintracht Frankfurt sich jetzt zum Ziel setzen würde, um jeden Preis mit den Bayern auf Augenhöhe zu kommen, wäre das der Untergang meines Vereins. Nur in dem wir uns auf unsere Tugenden und Besonderheit besinnen, können wir in Schlagdistanz bleiben. Natürlich in einer Außenseiterrolle, aber in einer, die noch träumen lässt. Ähnlich sehe ich auch die Konkurrenz von Bundesliga und Premier League.

Du bist schon sehr ausführlich auf die Bedeutung von Zuschauer:innen eingegangen. Vor wenigen Wochen wurden wegen der Proteste gegen den Investoreneinstieg in die DFL an jedem Wochenende reihenweise Spiele unterbrochen. In der Öffentlichkeit wurde vor allem durch die Boulevardmedien der Eindruck vermittelt, dass ein Großteil der Fans auf Krawall aus wäre. Wenn man sich dem Thema jetzt einmal sachlich annähert, muss man sich die Frage stellen, wodurch diese große und flächendeckende Wut ausgelöst wurde. Ist es, wie teilweise propagiert, nur das Abstimmungsverhalten von Martin Kind? Ist es die Intransparenz bei zwei Abstimmungsprozessen? Ist es das wiederholte Überschreiten von roten Linien? Ist es eine Kombination aus all diesen Dingen oder gibt es vielleicht noch ganz andere Gründe?

Ich denke, du hast damit schon gut beschrieben, was ich als Fass bezeichnen würde, was zum Überlaufen gebracht wurde. Der finale Tropfen war dann der Skandal bei der Abstimmung mit dem Votum von Martin Kind. Insofern ist es zu kurz gedacht, wenn man sich einfach nur diesen Investorendeal anschaut und dann nicht mehr versteht, warum die Fußballfans bei so einer Sache dermaßen auf die Barrikaden gehen. Man kann das Ganze nur verstehen, wenn man sich die Entwicklung des deutschen Fußballs seit den 90ern Jahren anschaut. Zwischen dem Fußball als sozialem, kulturellen Gut und der Notwendigkeit, sich als Wirtschaftsbranche in einem hitzigen Markt behaupten zu müssen, ist es ein ewiger Balanceakt. Und da zeichnet sich seit 30 Jahren mehr und mehr eine Schieflage ab. Dabei sind die Fans keine realitätsfernen Träumer:innen. Natürlich ist der Fußball nicht losgelöst von sonstigem wirtschaftlichem Treiben, natürlich ist Kommerz Teil des Fußballs. Aber dass man dem nicht alles unterordnen muss, sondern die soziale Komponente des Fußballs auch und im Zweifel an oberster Stelle verfolgen sollte, ist die Forderung, die durch die Proteste deutlich wurde.

Es gab mehrere Stimmen, die sich für eine neue Abstimmung stark gemacht haben. Jetzt einmal rein illusorisch: Was hätte man bei einem wiederholten Abstimmungsprozess im Hinblick auf die Einbeziehung der Fans besser machen müssen? Oder glaubst Du es ist ausgeschlossen, dass die Fans den Einstieg mitgetragen hätten?

Es liegt schon sehr nahe zum Schluss zu kommen, dass das Kind in den Brunnen gefallen ist. Der Fußball hat sich ein über Jahre lang selbst verschuldetes Glaubwürdigkeitsproblem geschaffen. Ich denke, wir können alle der Aussage zustimmen, dass der Fußball viele Probleme hat, aber zu wenig Geld eigentlich keines davon ist. Es fließt sehr viel Geld in den Fußball, aber die Ausgabenseite steigt immer weiter, was dafür sorgt, dass alles auf Kante genäht ist. Da macht es eigentlich keinen Unterschied, ob zwei Milliarden oder drei Milliarden in den Fußball gesteckt werden.
In einem Paralleluniversum, in dem der Fußball wirklich eine wirksame und in der Durchsetzung glaubhafte Regulatorik in Richtung Financial Fair Play, Kostendeckelung und fairere Verteilung gemeinsamer Erlöse herstellen würde und dann gleichzeitig ankäme mit einem Finanzierungsbedarf in Sachen Digitalisierung/globale Content-Professionalisierung, den er mit vielen Expert:innen zusammen ausgerechnet hat und dafür ein entsprechendes Medienpartnermodell darlegen würde, sehe ich ehrlich gesagt keine Tennisbälle fliegen. Aber davon ist die Fußballbranche weit entfernt, weil sie sehr kreativ in der Erschließung neuer Geldquellen ist – aber sehr ängstlich und unentschlossen bei der ökonomischen Regulierung des Wettbewerbs.

Mal zurück vom Paralleluniversum in die Realität.

Ich möchte nicht. (lacht)