Ein Kommentar von Tobias Hügerich.
Jerome Boateng kehrt nun doch nicht für eine Hospitation auf das Trainingsgelände des FC Bayern zurück. Zu groß wurde der, in erster Linie durch die Südkurve München ausgelöste, öffentliche Druck auf die Großkopferten beim Rekordmeister. Mit Transparenten im Spitzenspiel gegen den BVB und in der Champions League gegen Club Brügge brachte die organisierte Fanszene der Münchner das auf den Punkt, was für Fußballvereine, folgt man ihren durch prägnante Marketingkampagnen nach außen getragenen Leitbildern, doch eigentlich selbstverständlich sein sollte: „Keine Bühne für Täter! Verpiss dich Boateng!“ oder „Wer dem Täter Raum gibt, trägt seine Schuld mit!“
Dass der Name des ehemaligen Innenverteidigers bei den Münchnern überhaupt noch einmal auf die Agenda gerät, ist im Anbetracht der Tatsache, dass eine mögliche, am Ende abgelehnte Rückkehr, schon vor ca. zwei Jahren von massiven Fanprotesten begleitet wurde, ohnehin ein Witz. Damals sollte Boateng in der dünn besetzten und verletzungsgeplagten Bayern-Abwehr aushelfen, dieses Mal wollte er für seine angestrebte Trainerkarriere ein paar Eindrücke von den Trainingseinheiten von Vincent Kompany sammeln, der seinen in mehrere Fällen vorsätzlich frauenschlagenden ehemaligen Mitspieler als „guten Freund“ bezeichnete. Noch mehr blamierte sich CEO Jan Christian Dreßen, indem er allen Ernstes von einem „komplizierten Fall“ sprach und von „Resozialisierung“ schwafelte.
Wenn man sich jedoch den bisherigen Umgang mit häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt im Profifußball der Männer ansieht, sollte das Vorgehen der Bayern-Verantwortlichen wirklich niemanden mehr überraschen. Egal ob Köln-Trainer Lukas Kwasniok, einstige internationale Topstars wie Neymar und Cristiano Ronaldo oder der ehemalige Präsident des spanischen Fußballverbandes Luis Rubiales. Alles Männer, die sich in unterschiedlichen Fällen aufgrund ihrer immens großen Macht auf das Prinzip „Aussage gegen Aussage“ stützen, auf die Unschuldsvermutung bauen und die Solidarität aus dem Boys Club Profifußball erfahren konnten. Da können die Beweise, wie im Fall von Rubiales, welcher der spanischen Fußballerin Jennifer Hermoso vor laufenden Kameras einen Kuss auf den Mund gab und sich danach noch wochenlang im Amt hielt, noch so eindeutig sein. Währenddessen sieht sich das Opfer öffentlichen Hetzkampagnen ausgesetzt und wird dadurch bis ins Unendliche traumatisiert. Noch mehr als sowieso schon. Die Liste der prominenten Täter könnte selbsterklärend noch ewig weitergeführt werden. Jedoch folgen all diese Fälle einem klaren Muster: Männer missbrauchen ihre Macht und können sich auf ein System verlassen, das sie stützt.
Eine von misogynem und sexistischem Gedankengut geprägte und zutiefst patriarchale Gesellschaft macht einfach so weiter wie bisher und findet beim Fußball den optimalen Resonanzraum dafür. Egal ob auf der Anfahrt zum Stadion, am Bier – und Bratwurststand, auf der VIP-Tribüne oder in der Kurve. Beispielsweise stellt eine Reportage des ARD-Formats „Vollbild“ dar, wie weit verbreitet das Problem ist. Eine von vielen Betroffenen berichtet: „Ich habe keine Ahnung, wie oft ich im Block schon in der Menge unsittlich berührt wurde. Zu oft, um es zu zählen.“
Währenddessen versagen Vereine meist komplett, indem sie das Problem nicht erkennen (wollen) oder nicht ansatzweise ausreichend Maßnahmen dagegen veranlassen. Die Umsetzung dieser wird den Fans, die im übrigen zur großen Mehrheit Männer sind, selbst überlassen. Die Vereine bieten keine oder kaum Anlaufstellen und wenn, dann werden Taten nicht ansatzweise mit der notwendigen Ernsthaftigkeit behandelt. Vielmehr handelt es sich beim Thema sexualisierte Gewalt wohl für die meisten Vereine, wie Jan Christian Dreßen sagen würde, um einen komplizierten Fall.
