Timo Baumgartl über sein Comeback, den Weg zurück und über Menschlichkeit im Fußball

Aus dem nichts bekam Timo Baumgartl die Diagnose Hodenkrebs. Mit einem klaren Ziel vor Augen ging der 26-Jährige den schwierigen Weg. Am 18.09. feierte er sein Comeback in der Bundesliga und stand dabei gleich in der Startelf. Im Interview mit uns spricht der Innenverteidiger von Union Berlin jetzt über sein erstes Pflichtspiel nach der Krankheit, seinen Weg durch die Chemo, Menschlichkeit im Fußball und seine Vorbildfunktion.


FC PlayFair!: Du hast vor zwölf Tagen Dein Comeback gefeiert. Seit wann wusstest Du, dass Du spielst?

Timo: Das wurde mir in der Mannschaftsbesprechung gesagt. Der Trainer hat mich vorher gefragt, ob alles gut ist und ich mich bereit fühle. Aber ich bin nicht davon ausgegangen, dass ich direkt von Anfang an spiele. Und dann wurde in der Mannschaftsbesprechung gesagt, dass ich direkt in der Startaufstellung stehe.

FCPF!: Wie aufgeregt warst Du?

Timo: Tatsächlich gar nicht so sehr. Ich habe eher Vorfreude verspürt. Nach so einer langen Zeit wieder zu spielen hat dann der Nervosität überlegen.

FCPF!: Hat sich der Fußball wie vor der Diagnose angefühlt?

Timo: Ich würde sage, dass man es einfach anders einordnet. Man freut sich einfach wieder auf dem Platz zu sein. Dass man wieder Fußball spielen kann und darf ist glaube ich das Schönste. Natürlich fühlt es sich ein bisschen anders an, als vorher. Aber insgesamt war es nichts komplett Neues.

FCPF!: Hat der Fußball für Dich jetzt einen anderen Stellenwert als vor der Diagnose?

Timo: Im Großen und Ganzen kann ich das jetzt besser einordnen. Der Fußball stand für mich immer an erster Stelle. Jetzt ist es so, dass mir die Momente außerhalb des Fußballs viel wichtiger geworden sind. Für mich steht die Zeit mit meiner Freundin, mit meiner Familie und mit meinen Freunden jetzt an erster Stelle. Ich ordne den Fußball im Gesamtkontext jetzt ein bisschen anders ein. Dennoch ist man als Leistungssportler ehrgeizig und will zurückkommen.

FCPF!: Welcher Moment war am Tag des Comebacks der emotionalste für Dich?

Timo: Wenn man beim Aufwärmen wieder auf den Platz geht, wenn man die Sprechchöre wahrnimmt, ist das natürlich wunderschön, aber ich habe es noch nicht so richtig realisiert. Im Moment der Auswechslung habe ich es einfach nur genossen, wieder gespielt zu haben. Aber erst an den folgenden Tagen habe ich so richtig realisiert, wie schön es ist, wieder auf dem Platz zu stehen. Für mich war der gesamte Tag sehr emotional. Alles war ein bisschen emotionaler als sonst.

FCPF!: Wir wollen vom Comeback noch einmal ganz zurück zum Anfang Deines Weges gehen. Was wird in einem ausgelöst, wenn man aus dem nichts die Diagnose Hodenkrebs bekommt?

Timo: Ich bin 26 und war kerngesund. Das kam so ein bisschen aus heiterem Himmel. Natürlich ist das am Anfang ein Schock. Meine Freundin war mein großer Rückhalt und war überall dabei. Im Endeffekt bekommt man die Diagnose und funktioniert erst einmal nur. Man geht von Termin zu Termin, weil man ja dann auch unterschiedliche Untersuchungen hat. Man hat nicht so viel Zeit, das zu verarbeiten. Es gab Abende, an denen ich zusammen mit meiner Freundin sehr viel geweint habe. Unser Hund hat auch mit seinem Kopf bei mir auf meinem Schoß gelegen. Der hat auch gemerkt, dass irgendwas anders ist. Da haben wir in unserer kleinen Familie sehr viel Zeit verbracht. Nach der Diagnose ging alles relativ schnell. Nach vier Tagen wurde ich schon operiert. Und dann habe ich für mich gesagt, dass ich das Ganze wie eine Verletzung sehen möchte und einfach die nötigen Schritte gehen will, um wieder auf den Platz zurückzukehren. Im Endeffekt hat mich dieses Denken dann durch diese Zeit gebracht.

FCPF!: Welche Gedanken hat man, wenn man zum ersten mal zur Chemo geht? Spielt es in diesem Moment überhaupt noch eine Rolle, dass man Profifußballer ist?

Timo: Wenn man es drastisch ausdrückt, geht es in dieser Phase ja im Endeffekt um Leben und Tod. Klar war Fußball für mich in dieser Zeit nicht das wichtigste. Aber ich habe mir ein Ziel gesetzt. Ich wollte für meine Freundin, für meinen Hund, für meine Familie, für meine Freunde wieder gesundwerden. Aber auch auf den Platz wollte ich so schnell wie möglich zurückkehren. Diesen Ehrgeiz bringt man als Leistungssportler einfach mit.

Vor der Chemo weiß man nicht so richtig, was auf einen zukommt. Drei Tage bevor ich dort aufgenommen wurde, war ich zum Coronatest und zur Blutabnahme da. Und dann ist es natürlich ein beklemmendes Gefühl, wenn man da durchläuft. Ich war kerngesund und auf einmal ist man auf der Onkologie-Station und gehört dort gefühlt eigentlich nicht hin. Deshalb war das ein ganz komisches Gefühl. Im Endeffekt geht man am ersten Tag mit ein bisschen Angst hin, weil man nicht weiß, was auf einen zukommt. Am zweiten und am dritten Tag weiß man dann, was einen erwartet. Dann ist es ein bisschen einfacher.

FCPF!: Welche Phase der Chemotherapie war die schlimmste?

Timo: Das Schlimmste ist eigentlich, wenn man alleine in diesem weißen Zimmer sitzt und nicht weiß, was man tun soll. Man schaut Filme und Serien und versucht sich einfach die Zeit zu vertreiben. Ich habe mir sogar eine Playstation von unserem Busfahrer ausgeliehen, weil ich einfach nichts zu tun hatte. Und normalerweise spiele ich gar nicht Playstation. Aber das sind dann solche Phasen, wo man nicht weiß, was man mit sich anfangen soll und einfach nur wartet, bis diese 16 Stunden an der Maschine vorbei sind.

FCPF!: Die Playstadion von Eurem Busfahrer ist ein gutes Stichwort. Wie bist Du mit der Diagnose an die Mannschaft und an den Betreuerstab herangetreten?

Timo: Relativ offen. Es bringt nichts, sich zu verstecken. Als ich die Diagnose bekommen habe, hat der Sportdirektor gefragt, ob er es mit der Mannschaft kommunizieren kann. Da habe ich gesagt: „Na klar, die sollen wissen, um was es geht.“

FCPF!: Union Berlin und die PSV Eindhoven haben sich in Deiner Situation wirklich sehr gut verhalten. Von außen hat man dennoch ab und zu das Gefühl, dass die Menschlichkeit im Fußball insgesamt ein bisschen verloren geht. Kannst Du das bestätigen?

Timo: Im Endeffekt ist es schon so, dass die Menschlichkeit manchmal ein bisschen auf der Strecke bleibt. Es geht um so viel Geld. Und wenn es um so viel Geld geht, dann muss man als Spieler einfach funktionieren. Es ist einfach ein Gesamtprodukt Fußball, hinter dem massive wirtschaftliche Interessen stecken. Deshalb wird dort keine Rücksicht auf Einzelne genommen. Aber ich habe in meiner Situation diese Menschlichkeit und die Unterstützung von der PSV Eindhoven und von Union Berlin gespürt. Die PSV hat mich damals für 12,5 Millionen gekauft. Natürlich haben die auch ein hohes wirtschaftliches Interesse. Aber für die war in diesem Moment klar, dass ich in meiner Umgebung bleiben darf und Union wollte das auch unbedingt. Im Endeffekt hat das super geklappt und man kann einfach nur glücklich sein, dass das so funktioniert hat.

FCPF!: Sind solche Themen wie Menschlichkeit im Fußball auch Gesprächsthemen in der Kabine?

Timo: Bei uns in der Kabine gibt es sehr viel Menschlichkeit. Wir sind ein verschworener Haufen. Aber ich habe auch schon in Mannschaften gespielt, in denen jeder sein eigenes Ding gemacht hat und jeder nur auf sich geschaut hat. Groß thematisiert wird es nicht, aber man spürt einfach als Spieler, ob es Menschlichkeit gibt oder nicht.

FCPF!: Was muss aus Deiner Sicht passieren, dass im Fußball wieder mehr Menschlichkeit vorherrscht. Welche Werte müssen dafür vorgelebt werden?

Timo: Das ist schwer zu sagen. Das ist natürlich auch immer eine Frage, welche Typen man in der Mannschaft hat. Dann ist es wie gesagt so, dass Fußball mit unheimlich viel Geld in Verbindung steht. Deshalb ist das auch nicht so einfach. Ich finde es schwer zu sagen, was genau man machen muss. Aber eine Rückgesinnung darauf, was Fußball ausmacht, würde helfen. Das sind auch die Leute, die jedes Wochenende in die Stadien strömen. Im Endeffekt weiß ich nicht, ob die Entwicklung, dass man eigentlich rein theoretisch jeden Tag Fußball sehen kann, so gut ist. Das nimmt ja auch ein bisschen das Besondere.

FCPF!: Noch einmal kurz zurück zu Deinem Umgang mit der Krankheit. Du bist ja sehr offen damit umgegangen. Warum hast Du diesen Weg gewählt?

Timo: Das ist im Endeffekt ganz einfach. Ich habe durch meinen Beruf eine Vorbildfunktion und eine Reichweite. Mein Wort ist dadurch, dass ich Profifußballer bin höher gewichtet. Das möchte ich nutzen und zeigen, dass Vorsorgeuntersuchungen wichtig sind. Es kann jeden treffen. Jeder einzelne, egal ob jung oder alt, kann davon betroffen sein. Ich war Leistungssportler und kerngesund. Trotzdem war ich auch betroffen. Deshalb war es für mich wichtig zu appellieren, dass man zur Vorsorge gehen sollte.

FCPF!: Diese Vorbildfunktion erfüllst Du auf jeden Fall. Vielen herzlichen Dank für dieses besondere Interview!

Timo: Sehr gerne.

Das Interview führte Tobias Hügerich.