Andreas Rettig über die WM in Katar

FC PlayFair!: Hochrangige Personen aus dem Fußball behaupten ja, der Sport könne zu
Veränderungen führen. Was halten Sie von solchen Aussagen?

Andreas Rettig: Wenig. Mir ist kein sportliches Großereignis bekannt, welches zu
positiven gesellschaftlichen Veränderungen geführt hat. Im Gegenteil. Wenn wir nach
China oder nach Russland schauen. Veränderungen werden immer durch die
Zivilgesellschaft eines Landes herbeigeführt. Wenn Menschen auf die Straße gehen und
für Dinge kämpfen, wie wir es auch aus der eigenen Historie kennen, kann man das als
Schlüssel für gesellschaftliche Veränderungen bezeichnen. Wenn ich mir jetzt die Zivilgesellschaft in Katar anschaue, dann leben dort bei knapp drei Millionen Menschen
ca. 300000 Katarer, die einen exorbitant hohen Lebensstandard genießen und wie im
Schlaraffenland leben. Ich kann nicht erkennen, warum dort ein Veränderungswille
stattfinden soll.

FC PlayFair!: An den vergangenen Wochenenden haben wir aus der aktiven Fanszene
sehr viele Aufrufe zum WM-Boykott gesehen. Aber auch in den letzten zwei, drei Jahren
wurden die Diskussionen glücklicherweise ausgeweitet. Hätten diese Proteste schon
früher kommen müssen und sind Sie mit dem Verlauf der Debatten zufrieden?

Andreas Rettig: Es gab ja auch früher schon den ein oder anderen Aufschrei. Sowohl
aus der Fanszene als auch vom ein anderen Protagonisten. Wenn auch nicht so laut
wie heute. Aber ich denke, dass das, was viele, die den Fußball lieben, in ihrer Freizeit
tun großartig ist. Man merkt, wie viel Herzblut und Engagement in diese tollen Aktionen
fließt. Es ist grandios, wie viel Leidenschaft im Spiele ist und dass die Menschen ein
Zeichen setzen wollen. Ja, es hätte früher passieren müssen. Aber jetzt komme ich
wieder zur Strategie der Katarer. Man muss in diesem Fall leider neidlos anerkennen,
dass dies eine strategische Meisterleistung war, bei der Deutungshoheit beispielsweise
der Toten in Katar. Um die Toten nicht in Zusammenhang mit der WM zu bringen, lässt
man hier die Todesursache im Unklaren. Bei 70% der Toten ist die Ursache gar nicht
richtig geklärt, weil es keine Belege oder Untersuchungen gegeben hat. So kann man
nicht beweisen, dass unter 30-jährige keines natürlichen Todes verstorben sind. Das
wirft auch Fragen auf.

Des Weiteren hat man hat Ende der 90er, Sommermärchen lässt grüßen und später
über den FC Bayern, die Protagonisten mit ins Boot geholt und sich mit ihnen ins Bett
gelegt. Den Unsinn, den Herr Hoeneß in Sachen Frauenfußball transportiert, ist ja
erkennbar und nachweisbar Sportswashing. Zu glauben die Frauen des FC Bayern
fliegen dorthin und schon nimmt die Entwicklung des Frauenfußballs in Katar rasant
Fahrt auf, ist falsch. Es gibt eigentlich keine am Spielbetrieb teilnehmende
Frauennationalmannschaft. Die sind gar nicht mehr in der FIFA-Weltrangliste gelistet,
weil die gar keine Spiele machen. Wenn der FC Bayern erklärt, wie positiv die Fluglinie
„Qatar Airways“ zu sehen ist, weil dort Schmutzwasser wiederverwendet wird und
gleichzeitig werden in Katar Zehntausende Liter Wasser pro Platz verwendet, sieht man,
in welchem krassen Missverhältnis diese Dinge stehen.

Außerdem haben sich die Katarer die Franzosen im Präsidentschaftspalast zum Freund
gemacht, wie wir alle wissen. Herr Platini und Herr Sarkosy haben davon sicherlich auch
keine Nachteile gehabt. Barcelona und auch der AS Rom wurde mit
Sponsorenverträgen reichlich beschenkt. Das heißt, alle wichtigen Protagonisten in
Europa, die ihre Stimme damals hätten erheben können, lagen mit den Katarern bereits
im Bett. Das erklärt ein wenig die europäische Zurückhaltung.

FC PlayFair!: Trotzdem wird ein Teil der Basis die WM boykottieren. Sie haben schon
die Hoffnung, dass die Einschaltquoten in den Keller gehen, angesprochen. Gibt es
sonst noch Ziele, die durch einen Boykott erreicht werden können?

Andreas Rettig: Oft werden ja Presse und die Medien kritisiert, aber ich denke, dass
zumindest der seriöse Journalismus hier einmal ein Lob und eine Anerkennung erfahren
sollte. Ich denke, dass durch diese massive Kritik und das Ausleuchten der Situation
dort und letztendlich durch die Anti-Stimmung schon ein großes Ziel erreicht wurde. Das
Ziel der Katarer und der FIFA, mittels Sportswashing hier ein positives Image zu
erhalten, hat sich zumindest in großen Teilen Europas nicht verfangen. Woanders mag
das anders aussehen. Das kann ich nicht beurteilen. Aber hier ist es ja offenkundig,
dass dies tatsächlich nach hinten losgegangen ist. Und ich habe ja bereits vor vielen
Monaten gesagt, dass ich mir wünsche, dass die WM ähnlich wie 1978, als eine
Militärdiktatur die WM ausgerichtet hat, im PR-Desaster endet. Es gibt gute Anzeichen
dafür. Das kann dazu führen, dass wir vielleicht vom nächsten Irrsinn, z.B. China oder
Saudi-Arabien, bewahrt werden.